Ein massiver Fahrstuhl steht wie eine Ruine im Raum. Aus seinem Schacht entnommen, lässt er sich in seiner zur Schau gestellten Dysfunktionalität allansichtig betrachten. Wer einsteigt, wird die Etage nicht wechseln. Stattdessen begegnet uns das eigene Spiegelbild, umgeben von einer Malerei, die an höllische Flammen erinnert. Mit der Anordnung der Werke Untitled (2020) und Untitled (2021) konfrontiert Alex Chalmers die Betrachtenden auf beklemmende Weise mit sich selbst. Ein Blick aus dem Fenster genügt, um seine Werke vor dem Hintergrund der Frankfurter Skyline im Kontext von Macht, Geld und Gier zu lesen: Zwischen Aufstieg und Fall verfrachtet ein Lift in die obersten Chefetagen der Hochhäuser – und damit vielleicht ein Stück weit in die Hölle? Daneben befindet sich ein holographisches LED-Display, das aus der aufgebrochenen Kassettendecke herunterhängt und wie ein Helikopter vor dem Abflug abzuheben droht. In der endlosen Rotation leuchten Funken wie ein Feuerwerk auf. Was auch immer in Shooting stars (2021) gefertigt wird, schneidet auf gefährliche Weise in die Luft. Die Werke des Künstlers sind Teil der Absolvent:innenausstellung der Städelschule, an der dieses Jahr 24 Künstler:innen teilnehmen. Als Ausstellungsort dient nicht wie die vorigen Male eine Frankfurter Institution, sondern ein leer stehender Gebäudekomplex in unmittelbarer Nähe der Kunsthochschule. Zwischen Städel Museum und Liebieghaus gelegen, hielt sich das Bürogebäude am Schaumainkai bisher zurück. Wer jedoch im Spätsommer 2021 am Museumsufer entlang spaziert, wird von großen Fahnen abgefangen, die mit dem Titel THE WHISTLE den temporären Ausstellungsort als solchen kennzeichnen – einmalig, denn das Haus aus den frühen Siebzigern wird nach dem Abbau der Show abgerissen. Zahlreiche Räume des Hochparterres und des Untergeschosses dienen als Ausstellungsfläche, auf der die Werke in einen Dialog mit der angestaubten Büroästhetik treten. Über große Glasfronten ist auch der Außenraum miteinbezogen, besonders deutlich in der Videoarbeit von Hyunjung Choi. Die Künstlerin zeigt in Memories of Water (2021) den Eisernen Steg, ein Wahrzeichen Frankfurts, das die beiden Mainseiten miteinander verbindet. Mit animierten Wettereffekten irritiert sie die Besucher:innen und lässt sie orientierungslos zurück – ein Gefühl, das über die labyrinthartig verzweigte Ausstellung anhält. In besonders hoher Anzahl sind Malereien vorzufinden. Liegt es daran, dass die Werkstätten der Städelschule zuletzt nur eingeschränkt nutzbar waren? Stellt die flache Leinwand im Vergleich zu raumgreifenden Formaten vielleicht ein pandemie-taugliches Medium bei der Kunstproduktion dar? Miran Yang und Sara Rossi malen jedenfalls schon lange, und zwar mit Öl auf Leinwand. Ihre abstrakten Bildwelten unterscheiden sich grundlegend: In Miran Yangs Großformaten überlagern sich die pastosen Farbschichten und erzeugen ein Gefühl von Tiefe. Himmelsphänomene wie Regenbögen bieten der Künstlerin Ansatzpunkte für ihre Gemälde, die sie als psychologische Bekenntnisse versteht. Sara Rossi begreift den malerischen Raum im Kontrast zum geometrisch erfassbaren als eine erweiterbare und interpretationsoffene Dimension. Mit vereinfachten Formen und grafischen Verzerrungen fordert sie das rationale Verständnis heraus und verleiht ihren Werken durch goldene Flächen eine transzendentale Sphäre. Besonders experimentell sind Conrads Mixed-Media-Arbeiten, die Jeansstoff, Kupferdraht und 3D-gedruckte Objekte auf der Leinwand zusammenführen. Durch Nähen, Kleben, Stecken und Schmelzen entstehen dynamische Beziehungen zwischen den applizierten Materialien, die Dichotomien aufheben: Mensch und Maschine, Natur und Technik stellen keine Gegensätze mehr dar. Die Werke laden zur Detailansicht ein, halten als geschlossene Objekte aber an der Distanz zu den Betrachter:innen fest. Im Vergleich dazu lässt Agnese Galiotto das Publikum immersiv in ein Fresko eintauchen, das den grauen Flur in einen farbenfrohen, mediterranen Wald verwandelt. In Foris (forest, outside) (2021) streifen bunte Rehe auf Augenhöhe durch pink und gelb blühende Oleanderbüsche und Agavengewächse. Füchse und Katzen scheinen aus einem runden Deckenfenster Ausflucht zu suchen. Die Tierdarstellungen beziehen sich auf Fotografien, die die Künstlerin mit einer Wildkamera in den Dolomiten aufgenommen hat. In den dortigen Wäldern sind die gemalten Pflanzen eigentlich fremd: Oleander etwa wächst in den trockenen Regionen Südeuropas, Agaven in (sub)tropischen Klimaten. In Galiottos Werk sind die gewohnten Realitäten wortwörtlich auf den Kopf gestellt und auch das künstlerische Medium verhält sich gegenüber seiner Umgebung widersprüchlich: Fresken überdauern Jahrzehnte, gar Jahrhunderte – doch die hiesigen Räume werden bald abgerissen. Wie die Blüten der Agave zeigt sich das Werk vor seinem Ableben nur ein einziges Mal. Galiottos Arbeit kontrastiert die spröde Wirkung der Räume gekonnt. Die dunklen Teppichböden dämpfen die Schritte, die teilweise winzigen Zimmer erzeugen Beklemmungen. Diese Eindrücke rufen die kollektiven Erfahrungen der Corona-Zeit in Erinnerung, in der sich die Wände immer enger zogen. Die tristen Räumlichkeiten sind nicht die erste Wahl für die Präsentation der Abschlussarbeiten. Doch die getakteten Programme der Ausstellungshäuser – aufgrund monatelanger Schließungen voll aufgeschobener Projekte – ließen wohl keine Lücke für die Absolvent:innen zu. THE WHISTLE spricht somit im übertragenen Sinne für die “lost generation” eines Jahrgangs, der unter den Einschränkungen der Pandemie litt. Jordan/Martin Hell hingegen ersetzt Traurigkeit durch Knall und Pop, Plastik und Neon. In spielerischer Hängung erinnern seine bunten Werke vor der Raufasertapete fast an ein Kinderzimmer. Die vielen Arbeiten kommunizieren mit Ikonen der Kunstgeschichte, erneuern etwa eine Komposition Wassily Kandinskys oder übertragen Hilma af Klints Portrait auf ein Kettennetz. Ganz friedlich geht es hier nicht zu: Säbel schwingen durch den Raum, Schnüre strangulieren Leinwände. Kleine Objekte, etwa die Handyhülle einer Domina und ein mehrköpfiger Drache, sind wie im Museum auf Sockeln präsentiert und mit Hinweisen versehen: “DON’T TOUCH” oder “TOUCH” lauten die Optionen. Die elektrisierenden Werke sind der Novelle CONSTANT VIOLINS I & II erwachsen, die hier ebenfalls ausliegt. Jordan/Martin Hell entwirft darin eine Fiktion über das Leben von Künstler:innen, voller apokalyptischer Szenarien. Gespickt mit unzähligen Verweisen auf (sozio-)kulturelle Theorien, geht es um Liebe, den Kampf um Sichtbarkeit und das Einnehmen neuer Perspektiven. Hantarex-Monitore im Flur leiten zu Dudu Quintanilhas mehrkanaliger Videoarbeit INCAPAZ (The Incompetent)(2021). Eine Projektion inmitten des Raums führt durch ummauerte Innenhöfe mit bemalten Wänden und leere Zimmer, in denen beizeiten der Künstler zu sehen ist. Weitere Bildschirme zeigen Körperfragmente, die die gefilmten Personen nur andeuten. Das Bildmaterial ist in einer psychiatrischen Klinik nahe Rio de Janeiro entstanden. In den Wochen, die Quintanilha gemeinsam mit den Patient:innen im Rahmen einer Residency verbrachte, gab er ihnen seine Kamera in die Hand. Immer wieder zoomt diese so nah an Objekte heran, bis sie sich in kleinsten Pixeln auflösen. Zwei Stimmen sprechen stellvertretend für die persönlichen Narrative, die im Film zusammenfließen. Sie schildern auf anonyme Weise den Alltag vor Ort, berichten von den immer gleichen Abläufen, den langen Wartezeiten, vielen Zigaretten und der unausweichlichen Medikation. Sensibel illustriert die Arbeit die Ausweglosigkeit der Bewohner:innen. Die Einweisung in eine psychiatrische Institution bedeutet nicht unbedingt Heilung, sondern raubt vor allem die Entscheidungsgewalt, die Quintanilha ihnen ein Stück weit zurückgibt. Anita EsfandiarisTonskulpturen, die sie auf Podesten im Raum arrangiert, umkreisen die Absenz von Wasser. Töne gluckern aus den Fountains (2021), plätscherndes Wasser und eine Frauenstimme sind zu hören. Die mehrstöckigen Objekte sind teilweise bemalt, weiß-blau und orange; an anderer Stelle ist der gebrannte Ton trocken und erdig sichtbar. Die Zeichnung Waterfall (2016) und die Siebdrucke Goose Running on Water (2020) ergänzen die raumfüllende Anordnung. Die Künstlerin bezieht sich auf traditionelle iranische Brunnenbauten, die sie als Orte sozialer Zusammenkunft beschreibt. Früher wurde dort geredet, gespielt und gemeinsam verweilt, heute gibt es sie nur noch selten in dieser Form. Sie wurden weitgehend ersetzt durch moderne, platzsparende Varianten, die weniger einladend wirken. Esfandiaris Werke beherbergen nicht länger Wasser. Stattdessen kreiert ihr Beisammensein eine intime Atmosphäre, deren Fragilität zur Umsicht mahnt: gegenüber der Spezifität sozialer Kontexte, ihrer nährenden Bedeutung sowie der flüssigen Ressource, ohne die auch die Tonarbeiten nicht zu ihrer Form finden würden. Die schlaglichtartige Vorstellung der Positionen deckt sich mit dem Gesamteindruck von THE WHISTLE: Die Werke tauchen oft unvermittelt auf, finden sich aber stets in die spezifischen Gegebenheiten der Räume ein. Ohne kohärente Leserichtung oder inszenierte Dramaturgie werden die Besucher:innen durch das von Alke Heykes und Il-Jin Choi kuratierte Labyrinth geleitet – beinahe wie auf der Suche nach der Herkunft eines Pfeiftons. Er schwingt imaginär durch das Gebäude und resoniert in den langen Gängen und verschachtelten Zimmern. Nach Abbau der Show bleiben die Schallwellen in Form einer Publikation erhalten. Der von der Städelschule veröffentlichte Katalog soll demnächst erscheinen.
Theresa Dettinger, Philipp Lange